Positionspapier des RTM zu den aktuellen Ereignissen rund um die (Nicht-)Ausschreibung der Flüchtlingssozialarbeit
Flüchtlingssozialarbeit im Landkreis Leipzig – die Fortsetzung
Der Runde Tisch Migration im Landkreis Leipzig kritisiert die Nichtausschreibung der Flüchtlingssozialarbeit (FSA) und das bewusste Beschneiden des Subsidiaritäts- prinzips seitens des Landratsamtes durch dessen Absicht, diese zukünftig weiter selbst tragen zu wollen. Damit reiht sich das Netzwerk von Initiativen und Akteurin- nen im Bereich der Migrations- und Integrationsarbeit im Landkreis ein in die Kritik der Wohlfahrtsverbände, der Landesarbeitsgemeinschaft der Flüchtlingssozialarbeit sowie der Kreistagsfraktion Die Linke. Der Runde Tisch kritisiert den Entscheidungs- prozess, bei dem weder die Meinungen von Fachexpertinnen gehört wurde, noch deren geäußerte Kritik in irgendeiner Form Berücksichtigung fand.
Das Positionspapier steht zum Downloaden 20200518rtmpositionspapierfsa.pdf bereit.
Was bisher geschah…
Wir schreiben das Jahr 2018. Es soll vorerst das letzte Jahr sein, in dem sich die Flüchtlingssozialarbeit im Landkreis Leipzig in den Händen freier Träger befindet. Verteilt auf fünf Lose haben der Caritasverband Leipzig, das Deutsche Rote Kreuz, die Diakonie Leipziger Land, der Internationale Bund und Wegweiser e.V. seit 2015 landkreisweit eine starke Struktur zur sozialen Unterstützung und Begleitung ge- flüchteter Menschen aufgebaut. Im Frühjahr werden die neuen Ausschreibungen für nunmehr nur noch drei Lose veröffentlicht. Von vielen Seiten wird daraufhin heftige Kritik laut, die sich vor allem auf die Nichtvereinbarkeit der Ausschreibungsinhalte mit den Prinzipien Sozialer Arbeit bezieht. Kleine inhaltliche Änderungen verhindern letztlich nicht, dass sich schlussendlich die bisherigen und andere interessierte Trä- ger kollektiv nicht bewerben. Ab 2019 übernimmt sodann das Ausländeramt selbst die Flüchtlingssozialarbeit für die Lose Landkreis Leipzig Süd und West. Lediglich das Los Landkreis Leipzig Nord bleibt in freier Trägerschaft bei der Johanniter Unfall Hilfe e.V.. Ersteres wird von Kritiker*innen als zweijährige Notlösung geduldet, nachdem die beiden Lose ursprünglich an den Verein Zukunftsorientierte Förderung (Zof) aus Duisburg ver- geben werden sollten, der wegen Veruntreuung von zwei Millionen Euro Flüchtlings- geldern bereits in die Schlagzeilen geraten war (1). Die Kritik an der Übernahme von zwei Losen durch das Amt selbst wird in einer Pressemitteilung vom Runden Tisch Migration vom 12.11.2018 deutlich (2):
„Die hier angesprochene fachliche Koordinierung und Betreuung der FSA nach Standards der Sozialen Arbeit konnte in der Vergangenheit in unseren Augen durch das Ausländeramt nicht geboten werden. In diesem Zusammen- hang stellt sich zudem die Frage, wer zukünftig die Fachaufsicht haben wird. FSA muss Vertraulichkeit hinsichtlich der thematisierten Inhalte herstellen, den Ratsuchenden die Entscheidung überlassen, welche Auswirkungen die Bera- tung haben soll und zugleich absichern, dass aus dem Beratungsprozess keine Sanktionen folgen. Diese Sicherheit geht durch die Angliederung der FSA an das Ausländeramt, das gleichzeitig wichtige soziale, aufenthaltsrechtliche so- wie aufenthaltsbeendende Entscheidungen trifft, verloren.“ Weiterführend werden folgende Bedenken geäußert: „Sollte die FSA durch das Ausländeramt ausgeführt werden, befürchten wir eine von Anfang an bestehende Diskrepanz aufgrund bestehender Interessenskon- flikte zwischen den Ratsuchenden und der Verwaltungsbehörde als Ordnungs- und Ausführungsorgan bestehender Asylgesetze. Es ist damit zu rechnen, dass viele Ratsuchende das Angebot der FSA weniger nutzen werden.“
Was heute geschieht…
Wir schreiben das Jahr 2020. In einem Informationsschreiben an die Kreistagsfrak- tionen informiert die Landkreisverwaltung, dass nach Auslauf des Vertrags mit der Johanniter Unfall Hilfe e.V. diese Aufgabe nun auch im Gebiet Landkreis Leipzig Nord durch den Landkreis Leipzig selbst erbracht werden soll. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die Flüchtlingssozialarbeit ab 2021 ohne Benennung eines konkreten Zeitraums im gesamten Landkreis Leipzig vom Ausländeramt getragen werden soll, also jener Verwaltungsbehörde, die als Ordnungs- und Ausführungs- organ bestehende Asylgesetze umsetzt. Zum letzten Kreistag am 06.05.2020 wird die Information nochmals verlesen, womit die Nichtausschreibung und die Übernah- me der Trägerschaft letztlich zur beschlossenen Sache wird. Eine wirkliche Debatte dazu findet im Kreistag leider nicht statt, trotz und obwohl allen Kreistagsfraktionen vorab eine Stellungnahme der Kreisarbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände im Landkreis Leipzig zugegangen war. Die regionale Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege Sachsen macht darin ernsthafte Bedenken an der Trägerschaft durch den Landkreis und die damit einhergehende Verletzung des Subsidiaritäts- prinzips deutlich (3).
Was der Runde Tisch Migration (vor allem) kritisiert…
Es scheint als wiederholen sich die Debatten um die Ausschreibung 2018, nur dass dieses Mal das Subsidiaritätsprinzip ganz offensichtlich bewusst vonseiten der Landkreisverwaltung missachtet wird. In einem föderalen Bundesstaat wie Deutsch- land steht Subsidiarität für die größtmögliche Selbstbestimmung und Eigenverant- wortung beim Lösen von Aufgaben durch die untersten Ebenen einer Hierarchie. Das lateinische Wort subsidium bedeutet Hilfe bzw. Reserve und spiegelt damit letztlich die Rolle des Staates wider: nämlich dass dieser nur dann regulativ ein- greifen soll, wenn Aufgaben auf unterer Hierarchieebene nicht mehr gelöst werden können. Für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Sozialhilfe wird das Subsidiaritätsprinzip im Sozialgesetzbuch geregelt. Trotz dass es für den Bereich der Flüchtlingssozialarbeit keine derartige Rechtsgrundlage gibt, gilt es dennoch, das Subsidiaritätsprinzip auch hier anzuwenden, nicht zuletzt weil sich die Flücht- lingssozialarbeit in einem vergleichbar ähnlichen sozial-helfenden Tätigkeitsbereich verorten lässt.
Die Landkreisverwaltung bleibt der Öffentlichkeit an dieser Stelle eine Antwort schul- dig, die eine unbefristete Übernahme der Flüchtlingssozialarbeit durch die Behörde begründet und erklärt, warum die Arbeit der freien Träger in den Jahren zuvor nicht zur Zufriedenheit des Landkreises ausgeführt wurde. Berechtigt erscheint uns an dieser Stelle die kritische Nachfrage, ob damit die soziale Infrastruktur der Geflüch- tetenarbeit von freien Trägern und der Zivilgesellschaft im Landkreis bewusst (wei- ter) geschwächt werden soll, nachdem schon 2016 die eigenständige Förderung der Rückkehrberatung eingestellt wurde und seit 2019 ausschließlich vom Ausländeramt durchgeführt wird.
Aus der Notlösung des Landkreises, die Flüchtlingssozialarbeit selbst zu tragen, soll ganz offensichtlich eine Dauerlösung werden. Anders als zur 2018 selbst herbei- geführten Notsituation liegen nun jedoch keine zwingenden Gründe mehr vor, die gegen eine Ausschreibung sprechen würden. Anstelle einer kollegialen Zusammen- arbeit aller Akteur*innen der Integrationsarbeit vermittelt die aktuelle Planung des Landkreis Leipzig den Eindruck, als solle die Integrationsarbeit kontrolliert und in behördlicher Eigenregie vollzogen werden.
Die im an den Kreistag gerichteten Informationsschreiben ausgeführte Argumentati- on wirkt befremdlich und notdürftig. Die darin als Argumente angeführte zentralisierte Planung und Umsetzung, Beratungskontinuität und Kostenfrage der Flüchtlingssozi- alarbeit stehen dem hausgemachten Rollenkonflikt der Flüchtlingssozialarbeiterin- nen und der dadurch einhergehenden Spannungen und Arbeitshindernisse inner- halb der Behörde sowie der Nutzung außerbehördlicher Strukturen (z.B. Ehrenamt) in der Arbeit mit den Klientinnen entgegen.
Von der alleinigen Trägerschaft des Ausländeramtes profitiert nur die Verwaltung, nicht aber die Adressatinnen: Die Geflüchteten selbst. Soziale Arbeit mit Geflüchte- ten unter Trägerschaft des Ausländeramtes stattfinden zu lassen, ist als mindestens schwierig einzustufen, sofern Soziale Arbeit als eine Profession verstanden wird, die sich auf ihre berufsethischen und fachlichen Standards beruft. Sozialarbeitende sind entsprechend dieser Standards dazu aufgefordert, aktuelle Bedingungen, mit und in denen Geflüchtete leben, kritisch zu hinterfragen. Denn Grundlage der Ar- beit bilden die Menschenrechte und die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, der gemeinsamen Verantwortung und der Achtung der Vielfalt (4). Dies bedeutet u.a., dass sich Sozialarbeiterinnen der öffentlichen Träger bzw. staatliche Akteurinnen in einem Mandatskonflikt gegenüber Geflüchteten befinden, da das Ausländeramt gleichzeitig eine sanktionierende Instanz darstellt, die eigene Interesse verfolgt. In der Beratung entstehen so Interessenskonflikte bei Themenfeldern wie u.a. Bildung, Arbeit, Gesundheit, Leistungen, Wohnen oder Schutzbedürftigkeit. Und das Ausländeramt ist mitunter für den Erlass der Abschiebungsandrohung und die Durchführung der Abschiebung zuständig. Dies führt für Geflüchtete strukturell zu einem Vertrauensverlust bei einer an die Behörde angegliederten Flüchtlingsso- zialarbeit. Somit kann es aufgrund diverser Vorbehalte zu Misstrauen gegenüber der FSA als direktem Teil staatlicher Strukturen führen. Das Thesenpapier Das Subsi- diaritätsprinzip – oder weshalb Flüchtlingssozialarbeit von freien und öffentlichen Trägern kooperativ und ‚auf Augenhöhe‘ geleitet werden muss der Evangelischen Hochschule Dresden zeigt im Fall einer Abkehr vom Subsidiaritätsprinzip dahinge- hend weitere Konfliktlinien auf. Im Weiteren werden in diesem Thesenpapier aus- führlich vier Argumente besprochen, die deutlich machen, was gegen eine staatliche Trägerschaft der Flüchtlingssozialarbeit spricht (5). Die letzten zwei Jahre haben gezeigt, dass eine professionelle und fachliche Vernet- zung mit der Flüchtlingssozialarbeit seitens des Ausländeramtes nicht möglich und gewollt war. Ein Austausch über die Bedürfnisse der Klientinnen fand de facto nicht statt. Es kam trotz mehrfacher Einladungen zu keiner Teilnahme an Fachkreisen, die dazu genutzt werden, fachliches Wissen auszutauschen und Netzwerkarbeit zu leisten.
Was der Runde Tisch Migration fordert…
Aus diesen Gründen fordert der Runde Tisch Migration für die Flüchtlungssozialarbeit im Landkreis Leipzig die folgenden Punkte:
• Die Flüchtlingssozialarbeit wird ab 01.01.2021 an freie Träger vergeben. • Das Subsidiaritätsprinzip in der Sozialen Arbeit mit Geflüchteten sowie die Stärkung
der Wohlfahrtsverbände und freien Träger findet Beachtung. • Die Ausschreibung der Flüchtlingssozialarbeit beachtet die Standards Sozialer Arbeit. • Der Betreuungsschlüssel wird von 1:150 auf 1:75 gesenkt.
Sofern diese Kritik weiterhin ignoriert wird, fordern wir innerhalb dieses Zustandes:
- Die Umsetzung des Integrationskonzepts mit Kooperation auf Augenhöhe.
- Die Übernahme der Trägerschaft durch den Landkreis darf kein Dauerzustand sein.
- Die Flüchtlingssozialarbeit in Trägerschaft des Landkreises wird von einer externen und unabhängigen Stellen regelmäßig evaluiert.
- Eine externe und unabhängige Fachaufsicht von Fachexpert*innen wird eingerichtet, die halbjährig einem Aufsichtsgremium (z.B. Integrationsbeirat, Kreistag) einen
Rechenschaftsbericht vorzulegen hat.
(1) vgl. u.a. LVZ-Berichterstattung vom 18.10.2018: Verein im Zwielicht – Graichen will Millionenauftrag dennoch vergeben. URL: https:// www.lvz.de/Region/Borna/Graichen-will-Millionenauftrag-an-Zof-vergeben oder: LVZ-Berichterstattung vom 13.02.2019: Zof meldet Insolvenz an: Landkreis Leipzig fühlt sich bestätigt. URL: https://www.lvz.de/Region/Borna/Fluechtlingsarbeit-Zof-meldet-Insolvenz-an (2) Pressemitteilung vom RTM vom 12.11.18: Fragliche Entwicklungen im Bereich der sozialen Migrations- und Integrationspolitik im Land- kreis Leipzig. URL: https://boncourage.de/news/pm-rtm-ausschreibung-2 (3) vgl.: Stellungnahme der Kreisarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (KAG) vom 29.04.20 sowie Stellungnahme Landesarbeitsgemeinschaft Flüchtlings- und Migrationssozialarbeit (LAG FSA/MSA) vom 04.05.20 (4) vgl.: Globale Definition von Sozialer Arbeit der International Association of Schools of Social Work/The International Federation of Social Workers: URL: https://www.dbsh.de/profession/definition-der-sozialen-arbeit/deutsche-fassung.html (5) vgl.: Thesen EHS Subsidiarität. URL: https://www.ehs-dresden.de/forschung/ehs-forschung/wissenschaftliche-begleitung-der-fluecht– lingssozialarbeit-in-sachsen-2018/